Wie ich zum Shinbukai kam und warum ich in diesem Verband trainiere

Vor 39 Jahren (also 1977) begann ich Karate zu trainieren. Im zweiten Semester meines Studiums war ich aufmerksam geworden darauf, dass für Studenten das Karate-Training verhältnismäßig kostengünstig möglich war im Uni-Dojo-Hamburg (damals DKB). Ich begann bei Wolfgang Holm, der mich sehr beeindruckt hatte durch seine enormen präzisen Bewegungen. Nachdem ich recht schnell zum Violett-Gurt graduiert hatte, durfte ich zur Probe einige Trainingsstunden in der Fortgeschrittenen-Gruppe machen.
Das Training hat Dr. Jürgen Willrodt geleitet. Jürgen war promovierter Physiker und 4. Dan, mehrfacher Europameister im Kumite und Vizeweltmeister Kumite in der Mannschaft. Die Begrüßung war eher sparsam. Ich sprach Jürgen respektvoll an und fragte: „Darf ich wohl in deiner Gruppe mittrainieren? Ich habe in der vergangenen Woche zum Violett-Gurt graduiert.“ Jürgen drehte sich halb um, zog sich sein Unterhemd über den Kopf aus, zeigte mir seinen muskulösen Oberkörper und er meinte, ohne mich dabei anzusehen: “Kannst ja mal versuchen.“
Nach dem Angrüßen meinte Jürgen zur Gruppe. „Hier ist ein Neuer, Rainer, der will mal mittrainieren. Zum Warmmachen gibt’s heute Randori!“ Ich schaute mich etwas unsicher nach einem Partner um und hörte von ganz rechts: „Rainer hier her!“ Ein Koloss von Mensch, Egon V., 2. Dan, meinte, dass er der richtige Partner für mich sei. Nach kurzem Randori hatte ich sowohl auf beiden Stirnbeinwülsten oberhalb der Augen als auch auf der Ober- und Unterlippe kräftige Schwellungen.
Schon damals empfand ich dies als eine etwas merkwürdige Art jemanden willkommen zu heißen. Aber ich ging zum nächsten Training wieder hin. Das gleiche Spiel. Ansage von Jürgen kam zum Randori, Egon rief mich zu sich, ich lernte, wie schnell Schwellungen anschwellen.
In der dritten Woche, nach also etwa fünf bis sechs solcher Willkommens-Grüße kam wieder das gleiche Spiel: Randori! Rainer zu mir! Ich wollte dieses offensichtliche Ritual endlich durchbrechen und nicht wieder lädiert nach Hause gehen. Egon stand vor mir, stellte sich in lockeren Chudan Kamae und lächelte mich an. Ich stand ebenfalls in Kampf-Stellung und bevor Egon loslegte, griff ich ihn an mit Jodan Kizami Zuki und erwischte ihn recht hart auf der Lippe. Er ging zwei Schritte zurück, prüfte seine Zähne, blutete etwas an der Oberlippe und meinte dann lakonisch: „Na also, Rainer, geht doch!“
Nach diesem Entré konnte ich weiter in der Fortgeschrittenen-Gruppe trainieren. Ich dachte, so wird es wohl richtig sein, in einer Kampfkunst-Gruppe begrüßt zu werden, auch wenn ich es etwas befremdlich fand.
Es ging dann weiter damit, dass die Verbände fusionierten (DKV) und sich wieder trennten (DKV und DJKB). Ein kurzer Exkurs in den DKV und danach etwas länger in den DJKB zeigte, dass die Begüßungs-Rituale ähnlich waren. Auf z.B. Bundesbesten-Lehrgängen und anschließend im DJKB auf Instructor-Lehrgängen gab es regelmäßig die abfälligen und musternden Blicke: Erst in die Augen, dann nach unten schauen, dann wieder ins Gesicht schauen und vor Allem: Kein Gruß! Verschiedene Meister, an denen ich mich orientiert hatte, haben mich menschlich enttäuscht. Es wurde gelästert, aber keine offene Auseinandersetzung gesucht. Und bei einem Meister durfte ich innerhalb von zwei Jahren die Erfahrung machen, wie es ist, vier Mal hintereinander mit gebrochener Rippe aus einem Lehrgang zu gehen. Weiterhin war ich ziemlich frustriert, weil ich das Gefühl bekam, nicht mehr viel dazu zu lernen. Ein Lehrgang im Saarland (für mich 1000km Anfahrt) mit jeweils 90 Minuten Training nur Age Uke und danach nur Mae Geri ließen mich zweifeln an der Institution Lehrgang. Ich war, wie gesagt, frustriert.
Dann erfuhr ich vor etwa 15 Jahren von einem Lehrgang bei Thomas Volkmann, ein Karateka, den ich sehr schätze. Thomas hatte einen Kampfkünstler eingeladen, der Druckpunkt-Techniken unterrichtete. Prof. Rick Clark war sehr freundlich und sehr wissend. Das Seminar war enorm lehrreich und unterschied sich stark von allen Seminaren, die ich vorher besucht hatte. Es war eine freundliche Atmosphäre, die Teilnehmer waren im Miteinander und es gab keinen einzigen Teilnehmer, der hochmütig war. Es war eben anders.
Auf diesem Seminar lernte ich Nobi kennen. In einer Pause fragte ich ihn, ob er sich meine Nöte einmal anhören mag. Nobi hatte Schwierigkeiten mit seinem Iliosakralgelenk, lag auf dem Boden und rollte über seinen Lendenbereich hin und her, während ich ihm von meinem Frust erzählte. Ich bekam in regelmäßigen Abständen Bestätigungen wie: „Ja, ja, ich bin auch frustriert. Ja, ja, so richtig lernen kann man nicht auf den Lehrgängen.“ Aber hilfreich war das in dem Moment für mich auch nicht. Doch dann kam der entscheidende Satz von Nobi: „Du kannst ja mal in Braunschweig vorbei kommen und bei mir mittrainieren.“
Am darauf folgenden Mittwoch machte ich mich von Heide auf den Weg nach Braunschweig. Ich war zu früh am Trainingsort und ging in die Umkleidekabine. Dort waren schon fünf Dan-Träger, die sich umzogen. Ich betrat die Umkleidekabine, worauf alle einer nach dem anderen auf mich zu kamen, mir die Hand gaben und jeder mich nach meinem Namen fragte und jeder sich vorstellte. Nanu dachte ich, das ist ja einmal eine andere Art des Umgangs. Kurz danach kam Nobi, der erst nicht glauben konnte, dass ich mich nur wegen eines Trainings auf den Weg gemacht hatte, aber ich meinte, dass er mich doch eingeladen hätte, und ich wollte gern ihn und seine Schule kennenlernen.
Wir gingen ins Dojo und Nobi stellte mich vor. Dann fragte er mich, wo und bei wem ich denn gelernt hätte. Als ich Dr. Jürgen Willrodt nannte, meinte Nobi: Ach, dann können wir heute mit Randori uns warm machen, das kennst Du ja sicher, nicht war, Rainer?
Ich übte mit vier Danträgern nacheinander. Wir wechselten immer nach ca. drei Minuten. Das Niveau war sehr hoch und ich war nach den vier Randoris vollkommen erschöpft. Beim nächsten Wechsel hatte ich keinen Partner, weil Dan-Träger untereinander bleiben sollten und eine ungerade Anzahl von Danträgern im Training waren. Als ich mich an die Wand lehnte, um mich etwas zu erholen (ich war froh um die Pause), kam Nobi auf mich zu und meinte: “Es wäre unfreundlich, wenn ein Gast keinen Partner hätte. Du darfst jetzt mit mir üben.“ Das war so ziemlich das Letzte, was ich mir in dieser Situation gewünscht hatte. Ich stellte mich tief in den Fudo Dachi und hielt beide Fäuste vor mich, damit dieser blitzschnelle Nobi mich nicht gleich umrennen konnte. Er schaute mich etwas fragend an, tätschelte meine Faust und meinte: „Ist was?“ Ich sagte:“ Ja! Ich kann nicht mehr, Deine Schüler haben mich schon ziemlich überfordert, und außerdem habe ich Angst vor Dir, weil ich gesehen habe, wie schnell und hart DU bist.“ Und da kam etwas, was ich noch nie im Karate erlebt hatte.
Nobi meinte, ich solle umgehend etwas trinken, und wenn ich nichts dabei hätte, könne ich gern aus seiner Tasche ein Isotonisches Getränk holen. Danach könne ich gern nach Draußen gehen, mich kurz erholen und danach selbst entscheiden, ob ich weiter trainieren möchte, oder nur zuschauen.
Trinken in der Halle? An die Tasche des Meisters gehen? Rücksicht auf meine schlechte Kondition nehmen? Diese Dinge hatten mich sehr erstaunt!
Das erste Mal habe ich Warmherzigkeit, Mitgefühl und vor Allem Fürsorge erfahren, und das im Dojo. Und das in Verbindung mit einem knallharten Karate, das aber viel dynamischer und lockerer war als das, was ich bis dahin je kennen gelernt hatte.
Auf meinem Weg nach Hause rief ich meine Frau mit dem Auto-Telefon an und erzählte ihr meine Erlebnisse an diesem kurzen Abend. Wertschätzung, Wohlwollen, Mitgefühl, Freundlichkeit, Höflichkeit, Fürsorge und knallhartes blitzschnelles Karate. Der kurze Kommentar meiner Frau war: „Bei dem trainierst Du jetzt nur noch!“
So ist es denn auch. Vielen Dank Nobi, dass Du mich als Schüler angenommen hast!

Rainer